Warum Napoleon nicht wirklich klein war – und wie der Mythos entstand

Warum Napoleon nicht wirklich klein war – und wie der Mythos entstand

Es gibt Bilder, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben: Einstein mit herausgestreckter Zunge. Churchill mit einer Zigarre. Und Napoleon Bonaparte – klein, cholerisch, mit einer Hand in der Jacke, immer ein bisschen beleidigt dreinschauend.

Doch es gibt ein Problem: Napoleon war gar nicht klein.

Tatsächlich war er für seine Zeit sogar ziemlich durchschnittlich groß. 1,69 Meter, um genau zu sein – eine Größe, mit der er unter französischen Männern des frühen 19. Jahrhunderts kaum aufgefallen wäre. Der Durchschnitt lag damals bei etwa 1,65 Meter.

Warum also hat sich das Bild des „kleinen Generals mit dem Größenwahn“ so tief in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt? Die Antwort ist eine Mischung aus Übersetzungsfehlern, britischer Propaganda und populärer Psychologie.

Die große Verwechslung: Wie ein Zahlendreher Napoleon schrumpfen ließ

Der Ursprung des Missverständnisses liegt in der Art, wie Napoleons Körpergröße gemessen wurde. In Frankreich wurde damals das „pied du roi“-Maß verwendet, nicht das englische Fußmaß.

Als Napoleon starb, wurde seine Größe mit 5 Fuß 2 Zoll angegeben – nach französischer Messung. Doch britische Historiker, die das Dokument später sahen, interpretierten die Angabe fälschlicherweise im englischen Maßsystem. Ein fataler Fehler:

  • 5 Fuß 2 nach französischer Messung entspricht etwa 1,69 Meter.
  • 5 Fuß 2 nach englischer Messung entspricht dagegen nur etwa 1,57 Meter.

Ein simpler Übersetzungsfehler machte aus Napoleon einen Zwerg.

 

Britische Propaganda: Napoleon als der „kleine Korse“

Doch warum setzte sich dieser Irrtum so hartnäckig durch? Ein großer Faktor war die britische Propaganda.

Napoleon war Englands Erzfeind Nummer eins – und die Briten wussten genau, wie sie ihn lächerlich machen konnten. In Karikaturen wurde er als winziger, jähzorniger Zwerg dargestellt, der mit seinen überambitionierten Eroberungsplänen um sich schlug.

Britische Satiremagazine wie „Punch“ machten ihn zum Gespött:

  • In Zeichnungen wurde er oft als Wicht dargestellt, der kaum über einen Tisch hinausragte.
  • Seine Offiziere wurden als Riesen überzeichnet, um den Kontrast noch grotesker zu machen.
  • Der Begriff „The Little Corporal“ (Le Petit Caporal) war ursprünglich ein liebevoller Spitzname seiner Soldaten – doch die Briten machten ihn zu einer Beleidigung.

Der Historiker Andrew Roberts, Autor der Biografie Napoleon: A Life, beschreibt die britische Strategie so:

„Es war ein brillanter psychologischer Schachzug. Napoleon war eine gewaltige Bedrohung, also machten ihn die Briten klein – buchstäblich.“

Der „Napoleon-Komplex“ – Ein Mythos, der sich verselbstständigte

Mit der Zeit wurde aus dem „kleinen Napoleon“ mehr als nur ein physisches Missverständnis – er wurde zum Symbol für Männer mit Größenwahn. Der Begriff „Napoleon-Komplex“ entstand, um cholerische Männer zu beschreiben, die ihre vermeintlich geringe Körpergröße durch übermäßigen Ehrgeiz und Dominanzverhalten kompensieren.

Doch auch hier zeigt die Wissenschaft: Es gibt keine Beweise dafür, dass kleine Männer tatsächlich aggressiver oder ehrgeiziger sind.

Eine Studie des University College London (2007) untersuchte das Klischee und fand heraus, dass kleinere Männer nicht häufiger zu Wutanfällen oder aggressivem Verhalten neigen als größere Männer. Der Napoleon-Komplex ist ein psychologisches Konstrukt – kein reales Phänomen.

Ein großer Mythos über einen nicht ganz so kleinen Mann

Napoleon war kein Riese – aber auch kein Zwerg. Er war ein Mann von durchschnittlicher Statur, der durch Übersetzungsfehler, britische Propaganda und psychologische Projektionen geschrumpft wurde.

Der Mythos ist so tief in unserer Kultur verankert, dass selbst Filme und Serien ihn immer wieder reproduzieren. Doch wenn man sich die Fakten ansieht, bleibt von der Geschichte des „kleinen Generals mit dem Größenwahn“ nicht viel übrig.

Was bleibt, ist ein bemerkenswerter Feldherr, ein politisches Genie – und eine der erfolgreichsten Fehlinformationen der Geschichte.

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