Plötzlich sprechen wir nicht mehr von „Er meldet sich nicht mehr“, sondern von Ghosting. Wenn jemand zu schnell zu viel will, ist es kein romantisches Interesse mehr, sondern Love Bombing. Und wer sich nach ein paar Wochen Online-Dating erschöpft und desillusioniert fühlt, leidet an Dating Fatigue.
Sind wir durch diese Begriffe endlich klüger geworden – oder macht uns das Ganze nur noch paranoider?
Von Ghosting bis Gaslighting – das Dating-Lexikon der Neuzeit
Es scheint, als sei Dating heute nicht mehr einfach ein Kennenlernen, sondern ein psychologisches Minenfeld. Was früher einfach „schlechtes Benehmen“ war, hat heute ein ganzes Vokabular aus Beziehungsdiagnosen bekommen.
Ghosting etwa betrifft laut einer Studie der University of Georgia rund 30 % der Erwachsenen – und 25 % geben zu, es selbst schon getan zu haben, wie Psychology Today berichtet. Love Bombing hingegen beschreibt der Psychologe Dr. Daniel Lubetzky als eine Strategie, „um emotionale Abhängigkeit zu schaffen, die oft zu einer Form der Kontrolle über den Partner führt“. Er verweist auf eine Studie im Journal of Social and Personal Relationships, die zeigt, dass Menschen mit manipulativen Persönlichkeitsmerkmalen diese Taktik bewusst einsetzen, um emotionale Kontrolle aufzubauen.
Und dann gibt es noch die Dating Fatigue. Laut einer Umfrage des Pew Research Centers fühlen sich 43 % der Online-Dater emotional erschöpft von der ständigen Partnersuche – eine Entwicklung, die vor allem junge Frauen unter 30 betrifft. „Das Gefühl, sich immer wieder aufs Neue präsentieren zu müssen, kann zu einer Art Beziehungs-Burnout führen“, heißt es in der Studie.
Es gibt noch mehr Begriffe: Benching, Orbiting, Zombieing – für fast jede Art von schlechtem Dating-Verhalten existiert mittlerweile eine Bezeichnung.
Doch hilft uns das wirklich?
Sind wir klüger geworden – oder nur noch misstrauischer?
Die Sprache der Psychologie hat längst den Mainstream erreicht. Früher war jemand einfach ein Idiot, heute ist er toxisch oder narzisstisch. Dating ist keine intuitive Erfahrung mehr, sondern eine Analyse-Session: „Zeigt er narzisstische Tendenzen?“, „Bin ich in einer Trauma-Bonding-Dynamik gefangen?“, „Ist das echte Zuneigung oder nur eine Manipulationstaktik?“
Dr. Justin Lehmiller, Beziehungspsychologe am Kinsey Institute, warnt davor, dass das zunehmende Wissen über toxische Beziehungsdynamiken dazu führen kann, dass Menschen überanalysieren. In einer Studie des Instituts stellt er fest: „Es ist wichtig, sich über problematische Muster bewusst zu sein. Aber wenn wir anfangen, jedes kleine Verhalten zu pathologisieren, kann das dazu führen, dass wir echte Nähe vermeiden.“
Kurz gesagt: Ja, wir haben heute mehr Wissen über ungesunde Beziehungsmuster – aber vielleicht stehen wir uns manchmal auch selbst im Weg.
Die Ironie: Mehr Wissen, weniger Nähe
Ironischerweise haben wir mit mehr Beziehungswissen nicht unbedingt mehr Erfolg in der Liebe. Dating ist heute durch Apps und unendliche Möglichkeiten so effizient wie nie zuvor – und gleichzeitig so frustrierend.
Der Psychologe Dr. Barry Schwartz beschreibt in seinem Buch „The Paradox of Choice“, dass zu viele Optionen nicht zu besseren Entscheidungen führen, sondern zu Unzufriedenheit. „Wenn wir glauben, dass immer eine bessere Wahl existiert, werden wir nie mit dem zufrieden sein, was wir haben“, argumentiert er. Dieses Prinzip gilt besonders stark auf Dating-Apps, wo das Gefühl, dass da draußen noch ein „besserer“ Match wartet, dazu führt, dass wir uns kaum noch auf eine echte Verbindung einlassen.
Ein weiteres Problem beschreibt eine Studie der University of Essex, die sich mit den Auswirkungen sozialer Medien auf Beziehungen befasst. Die Forscher fanden heraus, dass Plattformen wie Instagram und TikTok unsere Wahrnehmung von Liebe und Partnerschaft stark beeinflussen. „Die ständige Konfrontation mit perfekt inszenierten Beziehungen kann zu Unzufriedenheit im eigenen Liebesleben führen“, so die Autoren der Studie, veröffentlicht im Journal of Social and Personal Relationships.
Und schließlich führt auch übermäßiges Misstrauen zu Problemen. Wer überall Red Flags sucht, kann keine echte Verbindung mehr aufbauen.
Dating ist keine Therapie – oder doch?
Natürlich ist es gut, toxische Dynamiken zu erkennen. Aber nicht jeder, der nicht zurückschreibt, ist ein Gaslighter. Nicht jede intensivere Verliebtheit ist Love Bombing. Und nicht jeder schmerzhafte Moment ist ein Trauma.
Die Beziehungswissenschaftlerin Dr. Helen Fisher vom Kinsey Institute beschreibt in ihrem Buch The Anatomy of Love, dass unser Fokus auf Gefahren manchmal verhindert, dass wir echte Verbindungen erleben. „Wenn wir uns zu sehr auf Risiken konzentrieren, vergessen wir, dass Liebe nicht perfekt, nicht immer rational – und genau deshalb so besonders ist.“
Vielleicht müssen wir wieder lernen, Menschen als Menschen zu sehen – und nicht als psychologische Fallstudien.
Liebe ist nicht perfekt, sie ist nicht logisch – und das ist vielleicht genau der Punkt.
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