„Zeit heilt alle Wunden“ – Warum das nicht immer stimmt

„Zeit heilt alle Wunden“ – Warum das nicht immer stimmt

Sie kann den Schmerz dämpfen, ihn in den Hintergrund schieben, ihn überlagern mit neuen Erfahrungen. Aber sie heilt nicht automatisch. Manche Wunden werden mit den Jahren sogar tiefer – sie wachsen mit, verändern sich, nisten sich ein.

Also, was macht den Unterschied? Warum kommen manche Menschen über schwere Schicksalsschläge hinweg, während andere noch Jahrzehnte später gefangen sind? Die Antwort hat wenig mit der Zeit zu tun – und viel mit dem, was wir mit ihr anfangen.

Warum Zeit allein keine Wunder wirkt

Die Idee, dass Zeit alle Wunden heilt, klingt beruhigend – aber sie ignoriert eine entscheidende Tatsache: Passivität hilft nicht.

Die Psychologin Dr. Meg Jay, Autorin des Buches Supernormal, beschreibt, dass Menschen, die schwere Traumata erlebt haben, nicht einfach „von selbst“ gesunden. Ihre Forschung zeigt, dass aktive Verarbeitung entscheidend für Resilienz ist und dass Menschen, die ihren Schmerz ignorieren oder verdrängen, langfristig schlechter damit umgehen können.

„Menschen, die sich einfach nur auf die Zeit verlassen, riskieren, in einer Endlosschleife des Schmerzes stecken zu bleiben,“ erklärt Jay.

Auch eine Meta-Analyse der American Psychological Association (2015) bestätigt, dass nicht verarbeitete Traumata das Risiko für Depressionen und Angststörungen erhöhen können. Die Zeit selbst ist also kein Heilmittel – die Verarbeitung ist es.

Warum manche Wunden mit den Jahren schlimmer werden

Es gibt Erfahrungen, die sich nicht einfach abschütteln lassen. Der Verlust eines geliebten Menschen, eine zerstörte Freundschaft, ein Verrat – sie formen unser Leben, bewusst oder unbewusst. Während manche mit der Zeit lernen, mit ihrem Schmerz zu leben, scheinen andere ihn nie wirklich loszuwerden.

Warum? Weil unverarbeitete Emotionen nicht einfach verschwinden.

Der Psychologe George Bonanno, ein führender Experte für Trauerforschung, beschreibt in The Other Side of Sadness, dass Menschen, die schmerzhafte Erinnerungen verdrängen, oft später mit unerwarteten emotionalen Rückfällen zu kämpfen haben.

„Wir neigen dazu zu glauben, dass Zeit die Wunden heilt, aber in Wahrheit heilt Verarbeitung die Wunden,“ sagt Bonanno.

Seine Studien zeigen, dass Menschen, die sich aktiv mit ihrem Verlust auseinandersetzen – sei es durch Gespräche, Schreiben oder bewusste Rituale – langfristig besser mit Trauer und Schmerz umgehen können.

Was wirklich hilft: Verarbeitung statt Warten

Wenn Zeit allein nicht reicht – was dann?

  1. Aktive Verarbeitung: Trauer, Schmerz und Verluste müssen gefühlt, benannt und durchlebt werden. Verdrängung verzögert den Heilungsprozess oft nur.

  2. Soziale Unterstützung: Eine Studie der Harvard University (2011) zeigt, dass Menschen, die über ihre Erlebnisse sprechen – sei es mit Freunden, Familie oder in Therapie – besser mit schwierigen Gefühlen umgehen können.

  3. Bedeutung finden: Die Psychologin Crystal Park (University of Connecticut, 2018) erforschte, wie Menschen aus Traumata Bedeutung schöpfen – sei es durch soziales Engagement, künstlerischen Ausdruck oder den bewussten Blick darauf, dass aus Leid auch Stärke entstehen kann.

  4. Körper und Geist verbinden: Bewegung, Meditation oder Atemtechniken können helfen, Emotionen physisch zu verarbeiten – denn viele traumatische Erlebnisse manifestieren sich im Körper.

Zeit ist nicht die Lösung – sondern das, was wir mit ihr machen

Die Idee, dass Zeit alle Wunden heilt, ist ein Mythos. Zeit kann Abstand schaffen. Sie kann das Gefühl von Dringlichkeit verringern. Aber sie heilt nicht. Heilung kommt aus dem, was wir tun – aus der Art, wie wir unseren Schmerz verarbeiten, wie wir ihn in unser Leben integrieren, wie wir trotz allem weitermachen.

Oder, um es mit den Worten der Psychologin Edith Eger, einer Holocaust-Überlebenden und Autorin von The Choice, zu sagen: „Zeit heilt nicht. Zeit gibt dir nur die Gelegenheit, dich zu heilen.“

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