Aber ist das wirklich schlecht? Bedeutet es, dass wir unser Erinnerungsvermögen verlieren? Oder hilft uns die Technologie einfach nur, unser Denken effizienter zu nutzen?
Ein Gehirn im digitalen Wandel
Die Neurowissenschaftlerin Dr. Maryanne Wolf beschäftigt sich mit den Auswirkungen digitaler Medien auf unser Denken. In ihrem Buch Reader, Come Home beschreibt sie, wie das Gehirn sich an neue Technologien anpasst:
„Unser Gehirn ist plastisch – es verändert sich je nach den Anforderungen, die wir an es stellen. Wenn wir weniger auswendig lernen oder uns weniger Dinge merken müssen, weil wir sie in Sekundenschnelle abrufen können, dann passt sich unser Gedächtnis daran an.“
Das bedeutet: Wir vergessen nicht mehr – wir erinnern anders.
Früher mussten wir Telefonnummern auswendig lernen. Heute speichern wir sie in unseren Kontakten. Früher merkten wir uns, wann der nächste Arzttermin ist. Heute übernimmt das unser Kalender. Unser Gedächtnis hat sich von Detailwissen auf Zugriffsstrategien umgestellt – wir wissen nicht mehr, was, sondern wo wir es finden.
Das nennen Wissenschaftler den Google-Effekt. Eine Studie der Psychologen Betsy Sparrow, Jenny Liu und Daniel Wegner (2011) zeigte, dass Menschen sich Fakten schlechter merken, wenn sie wissen, dass sie diese jederzeit googeln können.
„Das Internet ist zu einer Art externem Gedächtnis geworden,“ schreiben die Forscher. „Wir behalten nicht mehr die Informationen selbst, sondern nur noch den Weg, um sie wiederzufinden.“
Verlernen wir das Erinnern?
Der deutsche Neurowissenschaftler Henning Beck, Autor von Das neue Lernen, sieht das differenziert. In einem Interview mit Der Spiegel erklärte er:
„Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, Unmengen von Daten zu speichern. Es geht nicht darum, möglichst viel zu behalten, sondern das Richtige.“
Er argumentiert, dass unsere Handys uns von unnötigen Erinnerungen entlasten – was Raum für wichtigere Denkvorgänge schafft. Das Problem ist nur: Woher wissen wir, was wirklich wichtig ist?
Die Antwort könnte in einer Studie der University of California liegen. Forscher fanden heraus, dass Menschen sich weniger an Erlebnisse erinnern, wenn sie sie fotografieren. Der Grund? Das Gehirn „outsourct“ die Erinnerung an das Bild. Weil wir wissen, dass ein Foto existiert, fühlt sich unser Kopf nicht mehr zuständig, das Erlebnis zu speichern.
Ein Beispiel:
- Menschen, die ein Konzert genießen, ohne es zu filmen, erinnern sich stärker an die Musik und die Atmosphäre.
- Wer dagegen durch den Handybildschirm zusieht, speichert eher das Bild – aber weniger die emotionale Erfahrung.
Wir erinnern uns also weniger an das Erlebte – und mehr an die dokumentierte Version davon.
Warum das nicht nur schlecht ist
Es wäre leicht, jetzt zu sagen: Handys zerstören unser Erinnerungsvermögen. Aber das ist zu einfach. In Wirklichkeit verändert sich unser Gedächtnis – und das hat auch Vorteile.
- Digitale Erinnerungen sind präziser.
Früher war unser Gedächtnis subjektiv – heute haben wir Fotos, Videos und Sprachnachrichten, die uns helfen, Momente objektiver nachzuvollziehen. - Wir können unsere Erinnerungen teilen.
Dank Handys haben wir nicht nur unsere eigenen Erinnerungen, sondern auch die unserer Freunde und Familie. - Wir können gezielt erinnern.
Unser Handy speichert Daten, die wir sonst vergessen würden – sei es eine Adresse, eine Rezeptidee oder eine schöne Begegnung.
Der wahre Schlüssel ist Balance. Wenn wir alles mit dem Handy festhalten, nehmen wir Erlebnissen ihre Tiefe. Aber wenn wir es sinnvoll nutzen, kann es unser Gedächtnis sogar bereichern.
Wie sagte es der Psychologe Daniel Schacter treffend?
„Technologie kann unser Gedächtnis erweitern – aber sie sollte es nicht ersetzen.“
Eine neue Art des Erinnerns
Unsere Handys haben unser Gedächtnis verändert – aber nicht zerstört. Wir erinnern uns anders. Selektiver. Oberflächlicher in manchen Bereichen, präziser in anderen.
Die entscheidende Frage ist: Lassen wir uns von der Technologie kontrollieren? Oder nutzen wir sie bewusst?
Vielleicht ist die beste Lösung, das Handy manchmal einfach wegzulegen. Nicht alles muss dokumentiert werden. Manche Erinnerungen gehören nur uns.
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