Es gibt diese Nächte, die sich nicht planen lassen. Sie beginnen harmlos – ein Bier nach der Arbeit, ein kurzer Absacker, ein Gespräch, das aus dem Nichts entsteht und sich dann in die Nacht hineinzieht, weil plötzlich keiner mehr auf die Uhr schaut.
Aber dafür braucht es einen Ort. Einen Tresen, der Geschichten aushält. Eine Theke, die nach Holz, verschüttetem Bier und Gesprächen riecht, die am nächsten Morgen noch nachhallen. Eine Stammkneipe eben – diesen seltsamen, magischen Ort, der weder Bar noch Restaurant ist, sondern eine zweite Heimat.
Doch in der Stadt gibt es diese Orte kaum noch.
Warum die klassischen Stammkneipen sterben
Es ist nicht so, dass niemand mehr trinken will. Es gibt immer noch Menschen, die nach Feierabend ein Bier brauchen, die irgendwo ankommen wollen, wenn der Tag zu Ende ist. Doch die Orte, die diesen Wunsch erfüllen, werden immer seltener.
1. Der Feind der verrauchten Theken
Wenn ein Viertel hip wird, verschwinden die alten Kneipen als Erstes. Die Mieten steigen, neue Investoren kaufen Gebäude auf, das schummrige Bierlokal an der Ecke weicht einer stylischen Weinbar mit skandinavischem Interieur.
Berlin, Hamburg, München – überall das gleiche Bild. Die Deutsche Gesellschaft für Stadtentwicklung veröffentlichte 2023 eine Studie, die zeigt, dass allein in den letzten 15 Jahren über 40 Prozent der traditionellen Eckkneipen in deutschen Großstädten geschlossen wurden.
Wo früher „Zum Goldenen Anker“ oder „Bei Erwin“ stand, prangen heute Namen wie „Bar & Sons“ oder „Craft & Co.“ – austauschbare Designs mit schicken Logos, in denen du keinen Tresen findest, an dem du fünf Stunden sitzen kannst, ohne schräg angeschaut zu werden.
2. Die Gesellschaft hat sich verändert – und ihr Trinkverhalten auch
Es geht nicht nur um Immobilienpreise. Es geht auch um uns.
Früher war die Kneipe das Wohnzimmer für die, die keines hatten – für Schichtarbeiter, die nicht nach Hause wollten, für Künstler, die ihren Kater gepflegt haben, für alte Männer, die mehr Geschichten als Zähne hatten.
Heute? Heute gibt es Netflix, Instagram und Foodora. Der moderne Stadtbewohner bestellt sein Bier im Bio-Supermarkt und trinkt es auf der Couch, während er eine Serie streamt. Wir leben mehr in unseren eigenen Räumen – und weniger in denen, die wir teilen könnten.
Die Studie „Soziales Trinken in Deutschland“ (2022) des Marktforschungsinstituts IFH Köln zeigt, dass über 60 Prozent der Stadtbewohner ihr Trinkverhalten verändert haben:
- Weniger Alkohol in Gesellschaft, mehr Konsum zuhause.
- Mehr hochwertige Drinks, weniger spontane Bierabende.
- Mehr Fitness und Gesundheitstrends, weniger Eskalation am Tresen.
Die klassische Eckkneipe lebt aber genau davon: von Menschen, die nicht zu Hause trinken wollen. Von Leuten, die sich nicht vorher in Gruppenchat-Umfragen abstimmen, sondern einfach hingehen. Aber spontane Begegnungen werden seltener.
3. Kein Nachwuchs hinterm Tresen
Eine Kneipe ist nur so gut wie ihr Wirt. Eine Stammkneipe ist kein Geschäft, das man nach einem Zwei-Wochen-Workshop „Erfolgreich Gastro machen“ aufzieht.
Der beste Wirt ist ein halber Psychologe, ein Entertainer, ein harter Hund, der weiß, wann er dich in Ruhe lässt und wann er dir ein neues Bier hinstellt, ohne zu fragen. Er kennt dein Leben, deine Geschichte, deine Lieblingssorte – und er kassiert deinen Deckel erst, wenn du wirklich gehen willst.
Doch genau diese Wirte sterben aus. Junge Leute reißen sich nicht darum, 12-Stunden-Schichten hinter einem Tresen zu stehen, nur um sich abends mit betrunkenen Gästen herumzuschlagen. Die Margen sind mies und die Mieten hoch – von der Bürokratie ganz zu schweigen.
Die IHK Berlin meldete 2022, dass sich die Zahl der Kneipen-Neugründungen in den letzten zehn Jahren fast halbiert hat. Wer Gastro macht, setzt lieber auf hippe Konzepte mit fancy Speisekarten und Instagram-fähigem Design – statt auf Holztresen, Zapfhähne und Rauchvergilbung.
Die letzte Bastion der alten Zeiten
Doch es gibt sie noch. Versteckt in kleinen Städten oder den weniger glänzenden Vierteln. In Hafenstädten, Arbeiterbezirken, an den Rändern der Innenstadt, wo das Geld nicht so locker sitzt.
Die letzte Stammkneipe ist nicht hip. Sie hat eine Jukebox, die seit den 90ern nicht aktualisiert wurde. Sie hat Gläser, die nie ganz sauber sind. Sie hat Gäste, die sich wirklich unterhalten, statt ihre Drinks zu fotografieren.
Und wenn du sie findest, wirst du wissen, dass du am richtigen Ort bist.
Vielleicht gibt es noch Hoffnung.
Vielleicht werden wir irgendwann genug haben von sterilen Bars und abgezählten Cocktails, von geschmacklos renovierten Vierteln und dem Zwang, jedes Treffen perfekt zu inszenieren.
Vielleicht wird es wieder Orte geben, an denen man einfach hingeht, sich hinsetzt, und das Leben passiert.
Oder wir werden irgendwann wirklich die letzte Stammkneipe begraben müssen.
Aber das wäre ziemlich schade.
Rafael Haslauer
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