Und plötzlich sitzt du da, mitten in der Nacht, mit aufgerissenen Augen, googlest „beste Biohacks für mehr Produktivität“ und fragst dich, warum du nicht längst ein Unternehmen gegründet hast. Es ist 2:36 Uhr, und du überlegst ernsthaft, ob du deine gesamte Persönlichkeit mit einem besseren Schlafrhythmus und Selleriesaft optimieren kannst.
Willkommen in der Hölle der Selbstverbesserung.
Es ist nicht mehr genug, einfach nur zu existieren. Der moderne Mensch muss sich maximieren – in jeder Lebenslage. Schneller, fitter, fokussierter, mental stärker. Wer nicht mindestens zwei Bücher pro Woche liest, hat den Anschluss verloren. Wer keinen definierten Sixpack hat, respektiert sich selbst nicht. Und wer morgens nach acht aufsteht, ist ein hoffnungsloser Fall, der seinen Platz in der Nahrungskette verwirkt hat.
So zumindest verkauft es uns die neue Optimierungs-Industrie – eine Bewegung, die mit harmlosen Motivationssprüchen begann und mittlerweile einer sektenartigen Zwangsstörung gleicht.
Der Fünf-Uhr-Club: Warum wir uns selbst zerstören
Ich wollte es selbst testen. Fünf-Uhr-Morgenroutine. Keine Ausreden. Disziplin. Ein eiserner Wille formt den Charakter, sagen sie. Also stellte ich mir den Wecker auf eine unchristliche Uhrzeit und zwang mich aus dem Bett.
Draußen war es noch dunkel. Ich trank ein Glas Zitronenwasser, weil irgendein Internet-Guru behauptet hatte, das sei der Schlüssel zu ewiger Jugend und reiner Haut. Danach zehn Minuten Meditation – aber mein Kopf war noch zu verklebt vom Schlafmangel, also starrte ich einfach ins Nichts.
Dann kam das Schreiben. Kreativität auf Knopfdruck. Aber mein Hirn war ein matschiger Brei aus Müdigkeit und Selbsthass. Also ging ich laufen. Disziplin, Disziplin! Ich schleppte mich durch die Straßen, als würde mich ein unsichtbarer Drill Sergeant antreiben. Jeder Muskel in meinem Körper schrie nach Ruhe, aber Ruhe ist für Verlierer.
Als ich zurückkam, duschte ich kalt – weil kaltes Wasser angeblich die mentale Stärke eines Navy SEALs verleiht. Doch das Einzige, was passierte, war, dass ich fror und mich fragte, was zur Hölle ich hier eigentlich tat.
Und genau das ist der Punkt: Selbstoptimierung macht uns nicht besser – sie macht uns kaputt.
Die Selbstoptimierungs-Industrie: Ein Milliarden-Schwindel
Die Idee, sich zu verbessern, ist nicht neu. Schon die alten Griechen predigten Mäßigung und Selbstkontrolle. Aber heute geht es nicht mehr um ein erfülltes Leben – sondern um ständigen Wettbewerb. Wir rennen auf einem Laufband, das nie anhält. Sobald wir ein Ziel erreicht haben, rückt das nächste in Sicht. Besser, schneller, klüger.
Und hinter dieser ganzen Maschinerie steckt eine Industrie, die genau davon profitiert.
Denk mal drüber nach:
- Bücher über Produktivität verkaufen sich wie heiße Semmeln.
- Apps, die deine „Fokuszeit“ tracken, sammeln gleichzeitig deine Daten.
- Selbsternannte Erfolgsgurus verkaufen Kurse für 500 Euro, in denen sie dir erzählen, dass du „einfach härter arbeiten“ musst.
- Biohacking-Firmen machen Millionen mit sinnlosen Pillen und Supplements, die angeblich dein Gehirn in eine Rakete verwandeln.
Und das Beste? Es gibt kein Endziel. Sobald du denkst, du hast es geschafft, kommt der nächste Trend: Keto-Diät, Dopamin-Fasten, Eisbaden, intermittierendes Fasten, Lichttherapie, adaptogene Pilze, Astronauten-Nahrung. Du bist nie genug – und genau das ist das Geschäftsmodell.
Wann ist es genug?
Irgendwann muss man sich fragen: Verbessere ich mich wirklich – oder bin ich nur noch ein Sklave meiner To-do-Liste?
Manche Leute stehen morgens um vier auf, schreiben drei Dankbarkeitsseiten in ihr Notizbuch, gehen laufen, meditieren, lesen ein Kapitel aus einem Business-Buch und trinken dabei irgendeinen absurden Superfood-Smoothie – und sind trotzdem unglücklich.
Weil sie sich selbst nicht mehr gehören. Weil ihr Leben eine endlose Liste von Optimierungsaufgaben geworden ist.
Selbstverbesserung ist großartig – wenn sie dich glücklich macht. Aber sobald du anfängst, dich schlecht zu fühlen, weil du nicht „produktiv genug“ bist, hat das System dich gefressen. Der Schlüssel ist nicht Disziplin – der Schlüssel ist Balance.
Oder um es mit den Worten eines weisen Mannes zu sagen: „Ein gutes Leben besteht nicht aus perfekt genutzten Tagen, sondern aus Momenten, die du nicht optimieren musst.“
Rafael Haslauer
Neueste Kommentare